meine behausung in der kälte der fremde
meine behausung in der hitze des hasses
meine behausung wenn mich verbiegt die bitterkeit
Yüksel Pazarkaya, deutsche sprache, 1985
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Wann beginnt die Geschichte von migrantisierten und/oder rassifizierten Theaterschaffenden in der Freien Szene? Man könnte glauben, dass diese miteinander verwoben wären, denn es wird behauptet, dass die Freie Szene schon immer diverser und offener war. Es wird impliziert, dass marginalisierte Theatermachende in ihrer Geschichte und Entwicklung vorkamen, Unterstützung erhielten, also gefördert und finanziert wurden und das auf Augenhöhe, also ohne paternalistische, koloniale oder insgesamt diskriminierende Art und Weise.
Wenn und weil mit dieser Behauptung konfrontiert, ist es jedoch notwendig, diesen als Mythos einzuordnen. In meinem Essay möchte ich die Verbindung zwischen migrantisierten und rassifizierten Theatermacher*innen und der Freien Szene demystifizieren, insbesondere aus einer historischen Perspektive.
In meiner langen Recherche für meine Forschung zu rassifizierten und migrantisierten Theatermacher*innen in Deutschland habe ich viele verschiedene Institutionen, seien es Dachverbände oder Fördereinrichtungen, interviewt. Auch diejenigen, die spezifisch für die Freie Szene zuständig sind oder sich aus ihr entwickelt haben. Oft konnten mir im Gespräch keine Auskunft über diese Künstler*innen gegeben werden. Ganz oft wurde ich an die soziokulturellen Institutionen und Geldgeber*innen weiterempfohlen, die mich aber auch per E-Mail abwiesen. Es gäbe einfach weder eine Aufarbeitung noch Akten oder irgendwelches Material, das mir zur Verfügung gestellt werden könnte. In den offiziellen Archiven, seien es Theaterarchive und Sammlungen oder Fördereinrichtungen, gibt es kaum Spuren von rassifizierten und migrantisierten Theatermachenden.
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Als Ende der 70er Populäre Theaterkulturen, worunter zu dem Zeitpunkt auch die Freie Szene subsumiert wurde, an der Universität Hamburg beforscht wurden, wurde zum ersten Mal in der deutschen Theaterwissenschaft das sogenannte „Ausländertheater“ dazugezählt und untersucht. In einem Arbeitsbericht, der 1983 veröffentlicht wurde, waren über 60 Theatergruppen, darunter türkische, kurdische, jugoslawische, vietnamesische u. v. m., inbegriffen. Es wurde dabei festgestellt, dass aufgrund fehlender Förderung die Theatergruppen keinen Zugang zu Produktions- und Präsentationsstätten hatten. Die Theaterarbeit hätte einen Amateurcharakter und würde für die deutsche Theaterlandschaft keine Bedeutung spielen. Dieser Arbeitsbericht, so vereinzelt er war, war nicht nur für die Theaterwissenschaft sehr folgenreich, sondern auch, wie ich behaupte, für das Theater, insbesondere das Freie Theater. Die Asyl- und Migrationspolitik Deutschlands und die Kolonialität der Strukturen taten ihr Übriges. Es gibt keine Forschung und auch keine künstlerische Förderung bis weit in das 21. Jahrhundert.
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Knapp zwanzig Jahre später arbeitete Erol M. Boran die Geschichte des deutsch-türkischen Theaters auf und arbeitete heraus, welche Rolle diese für die deutsche Theaterlandschaft tatsächlich hatte. Einer der Theatermachenden, die er in den Vordergrund stellt, ist Yüksel Pazarkaya, der 1958 im Zuge des Anwerbeabkommens nach Deutschland kam und neben seinem Studium künstlerisch tätig wurde. Pazarkaya war laut eigener Angabe Mitbegründer der Studiobühne Stuttgart, die er von 1961 bis 1967 auch leitete. Zudem gründete er die erste türkische Theatergruppe, die „mehrere Jahre lang türkische Stücke in türkischer Sprache für hier lebende Türken“ aufführte. Bisher lässt sich dies jedoch in keiner der Historien der Theater in Stuttgart nachlesen, auch das Gespräch mit Interessenvertreter*innen der Stadt (u. a. Forum der Kulturen e. V.) führte zu keinem „Wissen“ über diese Geschichte. Pazarkaya hat später in Literatur promoviert, ist Autor, Lyriker und Übersetzer geworden und hat viele Auszeichnungen erhalten, u. a. den Bundesverdienstorden (1986), aber seine wichtige Arbeit als Theaterschaffender hat bis heute in der deutschen Theaterlandschaft, oder sogar der Freien Szene, der seine Arbeit zuzuordnen ist, keine Beachtung und Anerkennung erhalten.
Yüksel Pazarkaya ist nur einer der Theatermachenden, es gab noch viele mehr. Lange Zeit, so scheint es zumindest flächendeckend für die deutsche Theaterszene und damit auch die Freie Szene, sind migrantisierte und/oder rassifizierte Theaterschaffende übergangen und exkludiert worden, ihre künstlerische Arbeit herabgewürdigt und ausgelassen. Ich würde sogar behaupten, dass auch in der deutschsprachigen Theaterszene die koloniale und paternalistische Haltung gegenüber rassifizierten Subjekten verknüpft mit den politischen und gesellschaftlich aufgeladenen Migrations- und Asyldiskursen der Zeit ihre Spuren hinterlassen haben.
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Eine Kollaboration und Zusammenarbeit auf Augenhöhe besteht erst ab Anfang des 21. Jahrhunderts, beispielsweise als Matthias Lilienthal die künstlerische Leitung des Hebbel am Ufer übernahm und migrantisierten und rassifizierten Künstler*innen des „Kiezes“, so die eigene Formulierung, Raum für ihre künstlerischen Praktiken gab. Daraus entstand 2006 das Festival Beyond Belonging – Migration , welches dann zum späteren Konzept des postmigrantischen Theaters und der Wiedereröffnung des Ballhaus Naunynstraße führte. Aber noch 2013 wurde beispielsweise in der Publikation Die Freien Darstellenden Künste in Deutschland. Diskurse – Entwicklungen – Perspektiven von Eckhard Mittelstädt und Alexander Pinto, welche für den Dachverband Freier Theater e. V. herausgegeben worden war, auf das Ballhaus Naunynstraße und seine „neuen“ ästhetischen Diskurse hingewiesen – doch darin enthalten ist nur ein Beitrag mit dem Titel „Die ‚problematischen Ausländer‘ und das Theater“, worin Branco Šimic im Gespräch mit Eva-Maria Stüting über seine Erfahrungen und seine Perspektive spricht, die eben sehr stark deutlich machen, dass auch in der Freien Szene die Rassifizierung der künstlerischen Arbeit mit der Erfahrung von Rassismus einherging.
So beschreibt er seine Erfahrung folgendermaßen: „1992 kam ich nach Deutschland. Ich kann mich erinnern, wie ich ins Deutsche Schauspielhaus in Hamburg kam und dort im Foyer ein Plakat hing, auf dem zu lesen war: ‚Hier arbeiten Menschen aus 20 Ländern‘ und dann die Aufzählung eben dieser Länder – das waren wie ich gerne sage ‚problematische‘ und ‘nicht problematische’ Ausländer: Engländer, Amerikaner, Skandinavier etc. – das sind die ‘nicht problematischen’ Ausländer. Und dann gibt es die ‘problematischen’ Ausländer wie Türken, Afrikaner, Südslaven etc.“ Dabei zählte Šimic auch zu den „problematischen“ Ausländern.
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Seither hat sich einiges verändert. Nicht so viel, wie gerne behauptet wird, wie mit dem Mythos der offeneren und diversen Freien Szene deklariert wird, aber zumindest so, dass tatsächlich künstlerische Verhandlungen stattfinden. Es ist nicht lange her, bis weit in die 2010er, als BIPoC Theaterschaffende in der Freien Szene sich hauptsächlich bei der interkulturellen Projektförderung des Berliner Senats für eine Förderung bewerben konnten, um eine reelle Chance zu haben. Auch sind BIPoC als feste Mitarbeiter*innen in leitenden Funktionen immer noch eine Rarität (die Sophiensæle haben in den letzten Jahren eine Ausnahme gebildet). Anderenorts wird zwar immer noch gerne behauptet, es herrsche ein internationales und planetarisches Theaterverständnis vor, aber durch eigene Erfahrung habe ich festgestellt, dass sich gerade künstlerisch Leitende paternalistische und rassistische Haltungen gegenüber rassifizierten und insbesondere illegalisierten Menschen herausnehmen, während einzelne Künstler*innen als Allies eine Zusammenarbeit mit aller Kraft zu ermöglichen versuchen.
Yüksel Pazarkaya beschreibt in seinem Gedicht deutsche sprache diese als einen Zufluchtsort, eine „zweite Heimat“, die ihm nicht nur „geborgenheit“ gibt, sondern auch eine „behausung in der kälte der fremde, […] in der hitze des hasses [und, Anm. d. Verf.] wenn mich verbiegt die bitterkeit“.
Die Freie Szene ist immer mehr zu einer Behausung vieler rassifizierter und migrantisierter Theaterschaffender in Deutschland geworden. Sie haben sich den Weg erkämpft, sind zumeist auf viel Widerstand gestoßen, haben viel Gewalt und Abwertung erfahren – doch die Joy Kristin Kalus, Simone Dede Ayivis und Nuray Demirs sind nicht mehr aus der Freien Szene Deutschlands wegzudenken. Die Freie Szene im deutschsprachigen Raum entwickelt sich zur zweiten Heimat. Anders als Yüksel Pazarkaya es erleben musste.
Bis heute kämpfen wir, die rassifizierten und/oder migrantisierten Künstler*innen und die verbündeten Wissenschaftler*innen, darum, dass eine Aufarbeitung in der Geschichte, in den Archiven und der Kulturpolitik geschieht. Und auch heute sind koloniale und paternalistische Haltungen die Norm und nicht die Ausnahme. Mikroaggressionen, Stereotypisierungen und rassistische/koloniale Projektionen auf ver-anderte Subjekte sind immer noch Gang und Gebe. Der Mythos der historischen Offenheit und Diversität der Freien Szene besteht den kritischen Blick nicht. Der Leichtsinn und die Behäbigkeit, mit denen ein solcher Mythos angenommen und daran festgehalten wird, verwehrt weiterhin den Blick nach hinten und damit nach vorne.
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