Gürsoy Doğtaş, Am Ende der Redekur
Gürsoy Doğtaş, Am Ende der Redekur
Gürsoy Doğtaş
Am Ende der Redekur
Nach vielen Jahren auf der psychoanalytischen Couch, während derer ich versuchte, meine Sprachlosigkeit zu verstehen, verstummte ich plötzlich während einer Sitzung und den darauf folgenden Sitzungen. Das Ganze war sehr seltsam. Bis dahin erzählte ich dem Analytiker von den sich wiederereignenden Situationen, in denen mich in einem Konflikt mit Worten verteidigte, aber innerlich lautlos wurde. Darunter eine Erinnerung an einen Vorfall, der sich vor vielen Jahren in Hamburg zutrug. Meine sogenannte Doktormutter hatte mich am Ende einer Veranstaltung zur Seite gezogen, als wollte sie mit mir im Vertrauen reden. Aber sie sprach so, dass alle anderen ihre Disziplinierungen hörten. Sie führte mich und ihre Macht vor. Ich hatte versucht, ihr zu antworten. Fand nur keine Widerworte für ihre subtilen Machtspiele.
    Der Analytiker und ich schienen uns darauf verständigt zu haben, dass sich in all diesen Ereignissen Muster aus meiner Vergangenheit wiederholten. Wenn sich die Muster auflösen, würden auch die Wiederholungen aufhören. So die vorausgesetzte Formel. Er interessierte sich nicht für Strukturen, sondern allein für die individuellen Prägungen meiner Wahrnehmungen und Gefühle. Der Tag, an dem ich in der Sitzung verstummte, war, als ich merkte, dass ohne die Strukturen meine Ausgrenzungserlebnisse nicht wirklich verstanden werden konnten. Der Tag, an dem ich in der Sitzung verstummte, war, als ich merkte, dass die Psychoanalyse ein Teil dieser Strukturen war.

Teppiche aus dem Osmanischen Reich

Ich lag auf einer Couch, die mit Teppichen aus der Türkei bedeckt war. Der Analytiker imitierte den Ottomanen aus Sigmund Freuds Praxis. Der Gründer der Psychoanalyse wiederum hatte sich seinerseits fremde Kulturen angeeignet. Manche seiner Zeitgenoss*innen erinnerte die Praxis an ein archäologisches Museum, andere wiederum an eine Wunderkammer – mit allem, was dazu gehört vom Exotismus, über die Verehrung von Objekten aus kolonialen Handelswegen wie Raubzügen. Freud sammelte diese Objekte wie auch Teppiche. Die Teppiche, die seine psychoanalytische Couch drapierten, schenkte ihm 1883 Moritz Freud zu seiner Verlobung. Moritz Freud war der Cousin des Psychoanalytikers und ein Antiquitätenhändler. Um Waren für sein Geschäft zu erwerben, bereiste er den östlichen Mittelmeerraum und verkleidete sich teilweise in weißer Dschellaba und einer Kufiya, um als Einheimischer durchzugehen. Vermutlich kaufte er diese Teppiche in Smyrna (dem heutigen Izmir). Weshalb Sigmund Freud sie Zeit seines Lebens für Smyrnateppiche hielt. Im 19. Jahrhundert war Smyrna der bedeutendste Umschlagplatz für Teppiche. Sie wurden entweder mit türkischen oder persischen Knoten geknüpft. Der Tag, an dem ich in einer Sitzung verstummte, war, als ich erkannte, wie selbst die Inneneinrichtung einer psychoanalytischen Praxis in koloniale und imperialistische Strukturen eingebettet ist. Die Liegen, die heute Freuds Möbel zitieren, rufen Vorbilder der orientalistischen Kabinette auf. Ein*e Psychoanalytiker*in, der*die das nicht sieht, versteht nicht, wie historische Strukturen der Gewalt tradieren.

Tausendundeine Nacht

Neben den vielen Gütern aus dem Osmanischen Imperium regten auch der Ottomane und die Teppiche die Fantasie der Menschen in Mittel- und Westeuropa an. Sie standen für den Hedonismus, den Luxus und die Raffinesse einer fremden Kultur, auf den sie ihre Sehnsüchte und Ängste projizierten. Die psychoanalytische Couch erinnerte manche an Objekte aus arabischen Märchen wie die der Tausendundeinen Nacht. In der Rahmenhandlung versucht die junge Schahrasad, einem Todesurteil ihres Ehemannes zu entkommen. Dieser ist einer der Könige der Sassaniden und entscheidet aus Enttäuschung vor seiner ersten Ehefrau nur noch für jeweils eine einzige Nacht zu heiraten und am nächsten Morgen die Ehefrau hinrichten zu lassen. Um diesem Urteil zu entkommen, erzählt sie ihm von der Nacht bis zum Morgengrauen faszinierende Geschichten, deren Cliffhanger so gut platziert sind, dass der König aus der Neugierde auf die Erzählungen Schahrasad Tag für Tag begnadigt. Auf einer Suffah, dem arabischen Wort für Sofa, verwickelt sie ihn in Geschichten wie Aladin und die Wunderlampe oder Ali Baba und die 40 Räuber. Freuds psychoanalytische Couch wird wie das Tagesbett von Schahrasad zu einem Ort der Geschichten über Liebe, Wut, Traurigkeit und Angst, aber auch märchenhaften und mythologischen Erzählungen. Der Tag, an dem ich in der Sitzung verstummte, war, als ich merkte, dass ich mich in dem psychoanalytischen Setting an den orientalistischen Fantasien einer Schahrasad beteiligte.

Der Ottomane

Das Couchsetting bei Freud entwickelte sich eher zufällig als gezielt. Vor der Gründung der Psychoanalyse praktizierte er Hypnose zur Behandlung seiner Patient*innen. Um 1890 erhielt er von seiner Patientin Madame Annica Benvenisti einen Ottomanen (französisch „ottomane“, wörtlich „die Türkische“) für seine Praxis in der Theresienstraße in Wien. Diese Couch war also ein Überbleibsel aus Freuds Zeit als Hypnotiseur. In den Anfängen der Psychoanalyse prägte ein Foto von Edmund Engelman das Bild von Freuds Couch. Er hatte es 1938 in der Londoner Praxis von Freud geschossen. Also in dem Jahr, als Freud, als Person mit jüdischen Vorfahren, vor den Nazis aus Österreich nach England floh. Freud zog es vor, seine Patient*innen entspannt in Rückenlage, vergleichbar mit der auf einem Bett, zu positionieren, damit sie sich ohne körperliche Belastung und sensorische Ablenkungen voll auf ihre inneren Gedanken und Emotionen fokussieren konnten. Er platzierte sich hierfür absichtlich auf einem Stuhl hinter seinen Patient*innen, außerhalb deren Sichtfeld, um nicht stundenlang angestarrt zu werden und gleichzeitig zu verhindern, dass seine Mimik ihre Aussagen beeinflusste. Diese Art der Positionierung auf der Couch trug ebenfalls dazu bei, die psychologische Dynamik der „Übertragung“ einzudämmen.
    Madame Benvenistis Ottomane war ein typisches Möbelstück in großbürgerlichen Haushalten Mittel- und Westeuropas. In den Salons jener Epoche ermöglichte die Couch eine Haltung, die sich zwischen Sitzen und Liegen bewegte, wobei die darauf liegende Person bequem mit stehenden Gästen kommunizieren konnte. Aspekte des Salonlebens wie das „zwanglose“ Gespräch werden zu einer Grundsituation der Psychoanalyse. Die Patient*innen sollten auf der Couch ungezwungen von sich erzählen. Dann wiederum unterschieden sich die sehr persönlichen und intimen Gespräche mit einem unsichtbaren Gegenüber deutlich von den Salonkonventionen und ihrer großbürgerlichen Etikette. Der Tag, an dem ich in der Sitzung verstummte, war, als ich versuchte, mich aus der großbürgerlichen Grundkonstellation der Psychoanalyse herauszulösen. Was hatte ich als Gastarbeiterkind dort zu suchen?

Totem und Tabu

Koloniales Denken betrifft nicht allein die ikonisch gewordene Inneneinrichtung von Freuds Praxis, sondern sie findet sich auch in seinen Schriften wieder. Hierzu zählt sein großes kulturtheoretisches Werk Totem und Tabu (1912/13). Dessen Untertitel, „Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der [Wilden] und der Neurotiker“, lässt keinen Zweifel an der ungebrochenen ethnozentristischen Perspektive Freuds. Im Buch finden sich viele weitere Beispiele von entwertenden und entmenschlichenden Begriffen und Beschreibungen von anderen Kulturen und Ethnien. Seine Überlegungen zielen darauf ab, einige Ethnien als „primitiv“ herabzusetzen und sie dann beispielsweise in ihrem „Wunschdenken“ mit vermeintlich „regredierten“ Patient*innen gleichzusetzen. In Das kolonialisierte Gehirn und die Wege der Revolte (2023) führt Andreas Heinz so ein Denken auf die Thesen des britischen Neurologen John Hughlings Jackson zurück, der von krankheitsbedingten Rückfall auf zurückgebliebene Entwicklungsstufen theorisiert. Freud unterstützt mit seinem Denken koloniale Hierarchien und Herrschaftsverhältnisse. In diesem Weltbild werden die Europäer*innen in der evolutionären Entwicklung ganz oben eingestuft und dahinter folgen andere Kontinente. Bestimmte psychische Krankheiten sind dann ein Abstieg in diese Entwicklungsstufen. Der Tag, an dem ich in der Sitzung verstummte, war, als ich merkte, dass Freudsche Begriffe wie „Regression“ eine rassistische Basis haben.

Traumdeutung

Im Zusammenhang mit der Traumdeutung (1900) unterscheidet Freud zwischen Primär- und Sekundärprozessen des Wünschens. Der Primärprozess findet sich nach Freud bei Säuglingen. Die Erinnerung an eine frühere Befriedigung und das damit verbundene Nachlassen einer Spannung wäre so ein Primärprozess. Dies führt, Freud zufolge, zu einer vorübergehenden Erleichterung, aber eignet sich kaum, um reale Bedürfnisse wie Hunger zu stillen. Mit dem Sekundärprozess beschreibt er die rationale Beherrschung der Außenwelt. Die Erinnerung an eine Befriedigung schafft es beim Sekundärprozess nicht, die psychischen Kräfte für sich zu binden. Stattdessen lenkt er das Bedürfnis auf einen Umweg, der letztlich dazu führt, dass eine Person durch Handeln die reale Welt so verändert, dass sie das Objekt ihrer Bedürfnisse wirklich erreichen kann. Andreas Heinz erklärt, wie der Arzt und Psychotherapeut Rudolf Bilz aus der Entgegensetzung eines vermeintlich primitiven Wunschdenkens und einer rationalen Weltbeherrschung 1971 ein rassistisches Weltbild formuliert. Für ihn ist auf der einen Seite das psychotische Wunschdenken des ganzen Kontinents Afrika und auf der anderen Seite die Rationalität der zur Herrschaft berufenen weißen Männer. Sie versuchen, den Kontinent auf die „Stufe der Aufklärung“ der Europäer*innen zu heben, aber die irrationale und undisziplinierte Bevölkerung bedroht diese Arbeit. Der Tag, an dem ich in der Sitzung verstummte, war, als ich merkte, dass die Theorie von Freud und Psychotherapeuten wie Bilz, die rationale Kontrolle des vermeintlich zur Herrschaft berufenen Mannes als eine höhere menschliche Entwicklungsstufe definierten.

Homosexuelle Objektwahl

Nicht nur die evolutionäre Regression und das primitive Wunschdenken der Völker und Ethnien auf den Kontinenten wie Asien und Afrika bedrohen in der Theorie von Freud die Rationalität der weiß-männlichen Vorherrschaft, sondern auch weiße Frauen und das homosexuelle Begehren sind Ausdruck eines undisziplinierten Wunschdenkens. In seinen gesammelten Werken greift er den Fall Daniel Paul Schreber auf, wie Andreas Heinz schreibt. In seinen Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken beschrieb Schreber seelische Verletzungen durch seinen gewalttätigen Vater, Kritik am damaligen Anstaltswesen und persönliche Erfahrungen. Freud zitiert aus einem ärztlichen Gutachten, dass Schreber sich verfolgt und beeinträchtigt fühlte. Den Kern von Schrebers Verfolgungserfahrungen sieht Freud in einem abgewehrten homosexuellen Begehren. Er argumentiert, dass Schreber nach Enttäuschungen in heterosexuellen Beziehungen auf die Entwicklungsstufe des Narzissmus regredierte. In diesem Stadium liebt man nur Menschen mit ähnlichen Genitalien, was Freud als homosexuelle Objektwahl bezeichnet. Der Tag, an dem ich in der Sitzung verstummte, war, als ich merkte, dass Freud das homosexuelle Begehren als minderwertig theorisierte.

„Das Ressentiment ist eine Kolonialisierung des Seins,“ schreibt Cynthia Fleury in ihrem Buch Hier liegt die Bitterkeit begraben (2023). Ressentiment kann hier durch Begriffe wie Diskriminierung und Entmenschlichung ergänzt werden. „Es [das Ressentiment] zu sublimieren führt zu einer Dekolonisierung des Seins,“ erläutert sie weiter im Hinblick Frantz Fanons Buch Die Verdammten dieser Erde, „der einzig möglichen Dynamik, um ein Subjekt und die Fähigkeit zur Freiheit hervorzubringen.“ Ich schwieg, um mich zu befreien.



Literatur
Fanon, Frantz: Die Verdammten dieser Erde. Berlin: Suhrkamp Verlag 1981.

Fleury, Cynthia: Hier liegt die Bitterkeit begraben. Berlin: Suhrkamp Verlag 2023. 

Freud, Sigmund: Die Traumdeutung. In Studienausgabe, Bd. II. Frankfurt a. M.: Fischer Verlag 1972.

Freud, Sigmund: Totem und Tabu. In Studienausgabe, Bd. IX. Frankfurt a. M.: Fischer Verlag 1974.

Heinz, Andreas: Das kolonialisierte Gehirn und die Wege der Revolte. Berlin: Suhrkamp Verlag 2023.

Jensen, Uffa: Wie die Couch nach Kalkutta kam: eine Globalgeschichte der frühen Psychoanalyse. Berlin: Suhrkamp Verlag 2019.

Schreber, Daniel Paul: Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken. Giessen: Psychosozial Verlag 2003.

Tögel, Christfried (Hrsg.): Sigmund Freud – Stationen eines Lebens. Uchtspringe 2001.

Warner, Marina: Freud’s Couch: A Case History. Raritan 31.2, 2011



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