Melmun Bajarchuu, Klasse(n)denken
Melmun Bajarchuu, Klasse(n)denken
Melmun Bajarchuu
Klasse(n)denken
Was ist Klassendenken?
Mir fällt der Zug ein.
1. Klasse fahren.
Da findet sich immer ein Platz.
Es muss nicht auf dem Boden ausgeharrt werden.
Manchmal gibt‘s ein Upgrade.
Wer kann sich schon 1. Klasse-Tickets leisten?
Wobei die manchmal im Angebot sind.
Wenn früh gebucht wird.
Frühbuchen lohnt sich doch immer.
Vielleicht sind die Reichen im Land das Äquivalent
zu den Frühbucher*innen von Bahntickets.
Da ist grade ausreichend Geld da, um günstig zu kaufen,

was später (sehr viel) teurer wird.
So ist es doch auch mit Abos im öffentlichen Verkehr.
Entweder kannst du das Jahres-Abo gleich bezahlen

und sparst dabei viel Geld,

oder du hast die Kohle nicht

und stotterst einen höheren Betrag mit Einzelfahrscheinen ab.
4-Fahrten-Tickets sind die Schnäppchen der Nicht-Erbenden.
Zumindest ist das ein Berliner Ding.

Manche Menschen leisten sich auch 1. Klasse-Tickets für Regionalzüge.
Damit sie in Ruhe sitzen und arbeiten können.
Z.B. auf dem Weg von Berlin nach Cottbus,

wenn da der lukrative Job sitzt,

man da aber nicht wohnen möchte.
Andere Leute müssen nach Cottbus ziehen,

weil die Berliner Miete zu hoch geworden ist,

und andersrum pendeln für Jobs,

die eher aus Notwendigkeit als aus Leidenschaft

und (vermeintlicher) Berufung erledigt werden.

Lohnarbeiten. Malochen.

Frühbuchen ist auch das Arbeiten-Können

ohne eine Arbeitserlaubnis zu benötigen.
Anstatt jahrelang auf Aufenthaltspapiere zu warten,
auf gesicherte Lebens- und Existenzbedingungen,
können manche schon recht früh in die Rentenversicherung einzahlen. Frühbuchen ist auch in besseren Jobs zu sitzen,
und höhere Beiträge einzahlen zu können,
um nicht später in Altersarmut zu enden.
Von der Rente nicht leben können,
das Schicksal teilen sich viele migrantisierte Menschen
und Erbende.
Die leben dann aber von der Rendite.

Aber wir waren ja bei Zügen...

Manche Leute nehmen nie den Zug.
Manche bevorzugen das Auto.
Oder haben nicht die Wahl.
Oder nur aus ökologischen Gründen.
Und zahlen auch gerne mal drauf.
War das (auch) der Klassenunterschied von damals?
Lohnarbeit versus Kapitalertrag?
Heißt das überhaupt so?
Ist schon eine Weile her mit der Marx-Lektüre...

Was sind die Klassen heute? Und wie viele gibt es?
Und was genau unterscheidet sie?
Vor einiger Zeit wurde von der kreativen Klasse gesprochen.
Wer wurde da eigentlich drunter gefasst?
Diejenigen, die selbstgewählt sich selbst ausbeuten?
Oder doch diejenigen, die mit ihrer „Kreativität“
die Ausbeutung von Arbeitskraft vorantreiben?
Während andere „kreativ“ werden müssen,
um überleben zu können.

Altbekannt und bewährt ist natürlich die Arbeiter(*innen)klasse.
Ein Klassiker.
Arbeiter(*innen) aller Länder vereinigt euch.
Das war der Spruch, die Losung, die bei mir hängen geblieben ist.
Dass Arbeiten nicht an Grenzen gebunden ist,
dass es eine sehr menschliche und vereinende Tätigkeit ist,
dieses Lohnarbeiten, dieses Arbeitskraft-Verkaufen,

dieses Ausgebeutet-Werden.
Gibt es auch eine migrantische Klasse?
Die migrantisierte Arbeiter*innenklasse?

Wer sonst hat das „deutsche Wirtschaftswunder“ ermöglicht?
Sogenannte Gastarbeiter*innen aus Italien, Spanien, Griechenland,
aus der Türkei, aus Marokko, aus Portugal,
aus Tunesien, aus Jugoslawien,
auch aus Südkorea.
Und auch aus vielen anderen Ländern,
ohne die zwischenstaatlichen Verträge,
aber mit derselben Arbeitskraft.
Schicht für Schicht.
Und selten als Gäst*innen behandelt,
oder nur als unliebsame,
Zwischennutzung der Arbeitskraft.
Auch im anderen Teil Deutschlands,
dem „Arbeiter- und Bauern-Staat“,
wo die Arbeiter*innen und Auszubildenden
aus sozialistischen Geschwisterstaaten kamen,
aus Polen, Ungarn, Mosambik,
aus Vietnam, Angola, China,
aus Kuba, Nicaragua und dem Jemen,
aus Laos, Kampuchea
und auch aus der Mongolei.
Und das Geschwisterliche war oft nur die Ideologie,
nicht aber das Teilen von Zugängen und Zukünften.

Und die Kinder und Kindeskinder dieser Wunderarbeiter*innen
kriegen noch immer zu hören:
„Wo kommst du (eigentlich) her?“
Und nicht:
„Danke!“

Ich erinnere mich an einen Spruch, den ich sehr gerne mochte,

weil er kämpferisch war,
aber auch diese lateinische Wurzel noch behalten hatte,
was mich ansprach

als migrantische Vorzeige-Musterschülerin
am südwestdeutschen Gymnasium
auf dem katholisch geprägten Land

mit Latein als erster Fremdsprache:


„Expropriiert die Expropriateure!“


Enteignet die Enteigner(*innen)!


Eigentum also als Feindbild.
Und Eigentümer*innen als Feind*innen.


Was ist die materielle Basis unserer Gesellschaft?
Und wer hat welchen Anteil daran?
Und wie fest sind diese Anteile und Eigenanteile

und Anteilseigenschaften und Aneignungen festgeschrieben?
Wie wandelbar ist das?
Und wie allgemein ist so ein Eigentumsbegriff und ein Begriff von Klasse?
Wie historisch verwurzelt ist dieser?
Und kann er einfach so übertragen werden in einen Kontext,
der sich mit künstlicher Intelligenz schreiben lässt,
und in dem der Begriff der industriellen Reservearmee
eher an eine Kolonne von Cyborgs denken lässt
als an die prekarisierten und ausgebeuteten

Tagelöhner*innen und Hilfsarbeiter*innen

in den ausgelagerten Industriebetrieben,

die den Wohlstand der weiß-europäischen Gesellschaft begründe(te)n?
Die mit ihrer Arbeitskraft zahl(t)en für Brotkrumen.


Und wo nicht Altersarmut,

sondern Überleben zur größten Sorge wird.

Heute wird wieder von Klasse gesprochen.
Aber wie lässt sich über Klasse sprechen,

ohne über Produktionsbedingungen zu sprechen?
Ohne über Produktionsortverlagerung zu sprechen?
Ohne über Überproduktion zu sprechen?
Ohne über Ungleichverteilung zu sprechen?
Ohne über den Mangel an Umverteilung zu sprechen?
Ohne über den Mangel an Erbschaftststeuer zu sprechen?
Ohne über Armut zu sprechen?

Und so vieles mehr, was nicht besprochen wird, wenn „Klasse“ gesagt wird. Vieles, woran nicht gedacht wird, wenn „Klasse“ gesagt wird.

Was ist Klassendenken?
Oder:
Wie geht Klasse denken?
Wenn ich an „Klasse“ denke, denke ich an Kampf.
Klassenkampf.
Nicht ein Kampf um meine eigenen Vorteile.
Nicht ein Kampf um ein Mehr für mich und „Meinesgleichen“.
Nicht „mein Kampf“.
Aber ein Kampf um gerechte Bedingungen.
Gerechte Arbeitsbedingungen
Gerechte Existenzbedingungen.

Wenn der Zug entgleist, sind alle in Gefahr,

egal ob mit 1. oder 2. Klasse-Ticket.